Modrow-Stiftung → mediathek → bruecken-bauer
In über sechzig Jahren politischer Tätigkeit besuchte Hans Modrow die Volksrepublik China unzählige Male. Als Abgeordneter der Volkskammer, des Deutschen Bundestages und des EU-Parlaments, als Sekretär der SED, vorletzter Ministerpräsident der DDR und Vorsitzender des Ältestenrates der Partei Die Linke. Stets reiste er aus politischen Gründen: um Brücken zu bauen zwischen Deutschen und Chinesen, um Verständnis zu gewinnen für die jeweils andere Seite. Die Beziehungen beider Kultur- und Wirtschaftsnationen haben unterschiedliche Phasen erlebt, nicht immer waren sie friedlich. Vor dem Ersten Weltkrieg hielt Deutschland China als Kolonialmacht besetzt, Kaiser Wilhelm II. brüllte die »Hunnenrede« in die Welt und schlug den Boxeraufstand nieder. Während des Zweiten Weltkriegs sorgte Deutschlands enger Bündnispartner Japan für grausame Verbrechen an der chinesischen Bevölkerung. Im Kalten Krieg der fünfziger Jahre entwickelten die DDR und die Volksrepublik China, beide von den westlichen Ländern boykottiert, eine vielversprechende Zusammenarbeit. Mit dem Bruch zwischen China und der Sowjetunion in den sechziger Jahren rückte Peking näher an die USA. 1978 wechselte das Land unter Deng Xiaoping abermals den Kurs: modern und wachsend. Heute ist China die zweitstärkste globale Wirtschaftsmacht. Je mehr es sich aber der Welt öffnet, desto größer das Bestreben der westlichen, etablierten Mächte, das Land auf der Weltbühne zu isolieren – mit ökonomischen, politischen und ideologischen Mitteln. Hans Modrow, 93 Jahre alt, beschreibt die zurückliegenden sieben Jahrzehnte als kenntnisreicher Zeitzeuge.
Dr. Michael Geiger
Hans Modrow: Brückenbauer: Als sich Deutsche und Chinesen nahekamen, eine persönliche Rückschau, Berlin 2021, 234 Seiten
Kurz: Ein tolles Buch.
Eigentlich sind es mehrere Bücher in einem. Es ist ein Geschichtsbuch,
eine Dokumentation der Zeitgeschichte, ein Buch über Diplomatie und
Internationale Beziehungen, ein Buch der Politikwissenschaften, eine
Autobiographie, ein Buch über Medienwissenschaften, ein „China-Buch".
Dem Autor gelingt es mit großartiger Leichtigkeit, den jeweiligen Fokus
zu wechseln und dabei doch den Faden nicht zu verlieren. Das macht den
dargebotenen Stoff spannend, lesbar und äußerst anregend. Doch der Reihe
nach.
Erstens. Modrow wendet sich mit diesem Buch einem Thema von
äußerster Aktualität zu. Immer wieder stellt sich die Frage, wie halten
es die Deutschen mit der Ausrichtung ihrer internationalen Politik, wie
und wodurch realisieren sich dabei deutsche Interessen und was bedeutet
das für linke Politik. Das alles erfolgt nicht dozierend, sondern
analytisch anhand persönlicher Begegnungen und realisierter Politik.
Durch diesen Stil des „Faktischen", entfalten die geäußerten Positionen
und Überlegungen ihre Wirkung auf den Leser. Dadurch, dass Modrow über
Erfahrungen an der maßgeblichen Mitgestaltung an zwei unterschiedlichen
Systemen verfügt, haben auch seine Einschätzungen des Verhaltens dieses
System der VR China gegenüber einem besonderen Reiz.
Das Buch beginnt mit den Überlegungen, dass die Ausgangsbedingungen
beider Staaten ähnlich waren. Die Gemeinsamkeiten der DDR und der VR
China gehen dabei weit über das gemeinsame Gründungsjahr 1949 hinaus. In
diesem Zusammenhang berichtet Modrow mit gewissem Stolz, wie z.B. die
DDR und in Sonderheit Dresden, auf Anfragen der Volksrepublik zur
Unterstützung im Schienen-Fahrzeugbau reagierten. Mit der Ausbildung von
chinesischen Experten auf diesem Gebiet, wurden sicherlich maßgebliche
Keimzellen dafür geschaffen, dass die VR China heute darin führend auf
dem Weltmarkt ist.
Wenn heute die deutsche Automobilindustrie zu über 50% ihrer Absätze in
China generieren und auch damit Arbeitsplätze und deutschen Wohlstand
ermöglicht, sollte die Geschichte freundschaftlicher Beziehungen
zwischen der DDR und der VR China nicht vergessen werden. An vielen
Stellen macht Modrow deutlich, wie die chinesische Seite auf
Bevormundung, gar erpresserische Versuche, oder nur oberlehrerhafte
Bevormundung reagierten. In diesem Zusammenhang zitierte er auch Xi
Jinping, der einmal in typisch chinesischer Art ein Bild malte: „Ob die
Schuhe passen oder nicht, wissen die eigenen Füße am besten". Die
Vielzahl persönlicher Erlebnisse und Episoden, über die im Buch
berichtet wird, geben den grundsätzlichen Aussagen des Buches ein
zusätzliches Gewicht. So z.B. das Erlebnis über einen Empfang in der
japanischen Botschaft und den Äußerungen Kauders zur „Chinesischen
Seuche". Die sich anschließende Einschätzung im Buch, das für die
herrschenden Konservativen jeden Denkens außerhalb des
christlich-abendländischen Demokratieverständnisses ein Gräuel ist, wird
nachvollziehbar. Dass die VR China erst 1972 durch die BRD diplomatisch
anerkannt wurde, zeugt von der Ignoranz und Blindheit einer
antikommunistischen Grundhaltung. In dieser Haltung folgte die BRD
bedingungslos den USA, schreibt Modrow. Sehr aufschlussreich sind die
Schilderungen des Besuchs im „Deutsch-Chinesischen Öko-Park". Der Park
fußt auf einer 2010 geschlossenen Regierungserklärung und zeigt schon
jetzt beachtliche Ergebnisse. Angesichts der wirtschaftlichen Erfolge
stellt Modrow die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Doppelstrategie der
BRD. Die Wirtschaft zu fördern und in der Politik eher zu mauern oder
gar zu sanktionieren, das macht langfristig eher keinen Sinn.
Zweitens. Mit dem geistigen Exkurs durch nahezu 50 Jahre
Zeitgeschichte umgeht der Autor keine Klippe. Egal, ob es die Überlegung
Ackermanns zum deutschen Sonderweg zum Sozialismus ist, Fragen der
Einheit und der Spannungen in der kommunistischen Weltbewegung, die
Errichtung der Mauer zwischen den deutschen Staaten, die Kurswechsel der
im Fokus stehenden kommunistischen Parteien, die dominante Rolle der
Sowjetunion in der Deutschlandfrage, Gorbatschows Rolle in Fragen der
internationalen Beziehungen und vieles anderes waren, immer wird es
benannt, erläutert, hinterfragt und kritisch bewertet. Natürlich gehören
zu den kritischen Hinterfragungen chinesischer und deutscher Politik
auch der Umgang mit den Kampagnen der Kulturrevolution. Modrow stellt
sich der Frage, „was geschah dort in der Volksrepublik? Was verbarg sich
hinter dieser „großen proletarischen Kulturrevolution", die Mitte 1966
begann? Detailreich wird der Leser selbst über tätliche Übergriffe auf
Botschaftsangehörige der DDR informiert. Über die mögliche Motivation
und Überlegungen Maos, die hinter diesem einmaligen Zwischenfall
standen, erfährt der Leser leider nichts. Das ist insofern schade, weil
gerade Modrow über die erforderliche Sensibilität und vielleicht auch
über die notwendigen Gesprächskontakte verfügt, den deutschen Leser
darüber aufklären zu können.
Interessant sind auch seine Ausführungen, wie es zu den Ereignissen auf
dem Platz des Himmlischen Friedens kam. Es werden die eingeräumten
Fehler seitens der KP Chinas benannt, die zu den Unruhen führten. Ebenso
wird die Art und Weise der Reaktionen darauf erläutert. Das, was er
neunzehn Jahre später im Spiegel gelesen hatte, deckt sich mit dem, was
ihm das Politbüromitglied Wu Xueqian Ende 1989 berichtete.
Drittens. Als methodisch hilfreich stellt sich das wiederholte
„Springen" Modrows bei seinen Betrachtungen von zeitgeschichtlichen
Ereignissen in andere historische oder auch über geopolitische Rahmen
hinaus. Die Verweise auf deutsche Kolonialpolitik, auf Generaloberst
Moltke, die historischen Hintergründe des Korea-Krieges, die Ergebnisse
des Potsdamer Abkommens, die historische Einordnung der komplizierten
Grenzkonflikten Chinas, mit der UdSSR, Indiens, Japans, all das öffnet
den Blick und gibt dem Leser Anregungen zum eigenen Denken. Man muss
hierbei nicht jedem Urteil folgen, in jedem Fall jedoch die
zusammengetragenen Tatsachen zur Kenntnis nehmen.
Viertens. Auch Modrow wagt sich an das komplizierte Unterfangen,
chinesische Mentalität besser verstehen zu wollen. Ein Abschnitt des
Buches lautet: "Wie ticken Chinesen anders als wir in Europa?" Es ist
sicherlich kein Zufall, das Modrow aus der Vielfalt aphoristischer
Empfehlungen von Konfuzius gerade die herausgreift, die sich auf die
Einhaltung von Regeln beziehen. "Richtiges Verhalten zu anderen
Menschen- es befreit von Sorgen. Weisheit -- sie bewahrt vor Zweifeln.
Entschlossenheit- sie überwindet die Furcht." Hier sieht Modrow den
Schlüssel für das Selbstverständnis der Chinesen. Erst durch die Ordnung
und deren Einhaltung, so Konfuzius, ist Freiheit möglich. Ungeregelte,
chaotische Zustände hingegen erzeugen ein Klima der Unfreiheit, des
Zwangs und der Bedrängnis." In der tausendjährigen nahezu ungebrochenen
Tradition sieht Modrow eine der Gründe für die andere Verfasstheit der
asiatischen Mentalität. Die Gemeinschaft und das Gemeinschaftsleben
spielen eine überragende Rolle. Als ebenso bedeutsam wird die
Bereitschaft zu pragmatischen Lösungen benannt, die sich nicht mit den
europäischen Bedürfnissen deckt, die Welt in Kategorien Systeme und
feste Muster pressen zu wollen. Die Übertragung des Marxismus in die
geistige Welt der chinesischen Gesellschaft, so Modrow, musste zu
Problemen führen. Hier wechselseitig voneinander zu lernen, daran lässt
der Autor keinen Zweifel, ist bis heute ein Gebot der Stunde.
Fünftens. Auch um die Frage, was den nun das sozialistische Element
an der chinesischen Entwicklung sei, macht Modrow keinen Bogen.
Überzeugend lässt er den Leser Zeugnis nehmen an den tastenden Versuchen
der Erkundungen einer sozialistischen Entwicklung unter den konkreten
Bedingungen Chinas. Es werden bekannte Fakten zur Rolle Dengs, der
materiellen Interessiertheit in der Landwirtschaft, der Schaffung der
ersten Freihandelszonen, der Bildung von Joint Ventures, der Rolle der
Staatsbetriebe, der Kontrolle der Kräfte eines freien Marktes, bis hin
zur „Hinwendung zu einer qualitativ und ökologisch verträglichen
Wirtschaftsweise" zusammengetragen. Interessant in diesem Zusammenhang
ist der leider nur kurze Verweis auf die Analogie zum Begriff der
„Störfreimachung", wie er auch in den sechziger Jahren von der DDR
gebraucht wurde.
Freimütig bekennt sich Hans Modrow mit seinen eigenen Worten, zum
„Vertreter der traditionellen Denkschule", indem er seine Skepsis
bekennt zur weiteren Öffnung und Integration Chinas in die
kapitalistische Weltwirtschaft. Hoffnungen der Einen, Sorge der Anderen
sind dabei Begleiter der weiteren Entwicklungen. Er stellt sich die
Frage, die viele der linken Kräfte bewegt, inwieweit sich „der Geist des
ungehemmten Kapitalismus, der aus der Flasche gelassen wurde" wohl
wieder zurückbringen lassen wird. Eine der zentrale Fragen ist dabei,
wie sich das Verhältnis zwischen der sozialistischen Staatsmacht und der
ökonomisch erstarkenden Klasse der privaten Unternehmer weiter gestalten
wird.
Modrow schließt sich den Einschätzungen derer an, die die Bedrohung
einer weiteren Entwicklung in Richtung Sozialismus, aus den Reihen der
nationalen privaten chinesischen Unternehmer als ebenso groß ansehen,
wie die aus den Reihen des internationalen Großkapitals.
Sehr aufschlussreich sind auch Modrows Äußerungen dazu , inwieweit die
starke Betonung der Unabhängigkeit und Selbständigkeit der chinesischen
Politik als eine Art Absage an den proletarischen Internationalismus zu
verstehen sei. Das ist ohne Zweifel eine Frage von höchster Relevanz.
Hier wären weitere Ausführungen sehr hilfreich gewesen. Auch derart, ob
solche Fragen in den bilateralen Gesprächen jemals eine Rolle gespielt
haben.
Sechstens. Einen großen Teil, über das ganze Buch hinweg, nehmen
Äußerungen Modrows ein über das Selbstverständnis deutscher Kommunisten,
deutscher Sozialdemokraten und vieler anderer humanistisch gesinnter
Kräfte zum Umgang mit den chinesischen Entwicklungen. In diesem
Zusammenhang wird Yi Junqing zitiert, der an den „demokratischen Westen"
gewandt, der Meinung ist, dass diese heute die gleichen Fehler begehen,
wie früher die Sowjetunion. „Er verneint die Möglichkeit anderer
Entwicklungswege und -modelle und geht davon aus, dass es in der Ära der
Globalisierung nur einen Weg gebe für alle Länder der Welt." Ein ganzer
Abschnitt des Buches ist überschrieben mit dem Titel: "Arrogante und
dumme Reaktionen bei den Linken". Nachdem er heftig den stereotypen und
oberflächlichen Umgang auch linker Medien mit Beschreibungen von
Ereignissen in der VR China kritisiert, kommt er im letzten Abschnitt
des Buches zu dem Urteil, dass der Untergang des Realsozialismus und der
Zerfall der Sowjetunion nicht nur für Irritation gesorgt hat, sondern
auch für einen Niedergang des marxistischen Denkens. Von einer
Weiterentwicklung marxistischen Denkens, so Modrow, kann nicht die Rede
sein. Mit der Pandemie drängt sich die alte Frage wieder in den
Vordergrund: "Welches gesellschaftliche System ist das humanere? Wo ist
der Mensch der Maßstab aller Anstrengungen? Um dann Fidel Castro
antworten zu lassen, ob nicht doch der Sozialismus die „artgerechtere
Gesellschaft" sei. Zwei Seiten später wird Xi mit den Worten zitiert:
"Eine gute Umwelt ist die Grundlage für die Existenz und die Gesundheit
der Menschheit," wobei unter Umwelt weit mehr verstanden wird als nur
die unmittelbare Umgebung und die Natur.
In den "letzten Worten eines zornigen Alten" lässt Modrow keinen Zweifel
daran aufkommen, dass er eine solche Gesellschaft für möglich hält. In
einer Referenz zu Günter Gaus, der meinte, die Evolution habe „die
Menschen" nicht sonderlich verändert, sie seien der „alte Adam und die
„alte Eva" geblieben, betont auch er, seine Unzufriedenheit mit dem
Tempo des gesellschaftlichen Lernprozesses. Auf der letzten Seite seines
Buches kulminiert sein Anliegen in der trefflichen Einschätzung: „Die
Haltung zu China ist, um es mal ganz abstrakt zu formulieren, eine
Klassenfrage," oder eben die Gretchenfrage. Zornig eben bemerkt er:
"Europa ist nicht der Nabel der Welt. Und die Linken darin nicht einmal
ein Krümel darin."
Abschließend muss dem Autor bestätigt werden, dass er sein Anliegen,
wie er es in den Vorbemerkungen betont „Nicht aus Distanz, sondern mit
Sympathie und Verständnis zu berichten" eingelöst hat. Dabei verklärt
diese Haltung nicht, führt auch nicht zu eventueller Schönfärberei oder
Lobhudelei. Im Gegenteil. Es sensibilisiert den Leser für das
Verständnis für Fehler, ohne die eine Zukunft nicht möglich sein wird.
An eine Zukunft zu glauben, bestärkt das Lesen des Buches. Was gibt es
Besseres?
Dafür gebührt dem Autor und dem Verlag großer Dank.