Modrow-Stiftung
Modrow-Stiftung
Medium:
Buch
ISBN:
978-3-947094-87-5

Brücken Bauer

Aktuelle Veranstalltung zum Buch

31.08.2021, 19:00, Karl-Liebknecht-Haus, Berlin
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Hans Modrow

Brückenbauer. Als sich Deutsche und Chinesen nahe kamen

Eine persönliche Rückschau

In über sechzig Jahren politischer Tätigkeit besuchte Hans Modrow die Volksrepublik China unzählige Male. Als Abgeordneter der Volkskammer, des Deutschen Bundestages und des EU-Parlaments, als Sekretär der SED, vorletzter Ministerpräsident der DDR und Vorsitzender des Ältestenrates der Partei Die Linke. Stets reiste er aus politischen Gründen: um Brücken zu bauen zwischen Deutschen und Chinesen, um Verständnis zu gewinnen für die jeweils andere Seite. Die Beziehungen beider Kultur- und Wirtschaftsnationen haben unterschiedliche Phasen erlebt, nicht immer waren sie friedlich. Vor dem Ersten Weltkrieg hielt Deutschland China als Kolonialmacht besetzt, Kaiser Wilhelm II. brüllte die »Hunnenrede« in die Welt und schlug den Boxeraufstand nieder. Während des Zweiten Weltkriegs sorgte Deutschlands enger Bündnispartner Japan für grausame Verbrechen an der chinesischen Bevölkerung. Im Kalten Krieg der fünfziger Jahre entwickelten die DDR und die Volksrepublik China, beide von den westlichen Ländern boykottiert, eine vielversprechende Zusammenarbeit. Mit dem Bruch zwischen China und der Sowjetunion in den sechziger Jahren rückte Peking näher an die USA. 1978 wechselte das Land unter Deng Xiaoping abermals den Kurs: modern und wachsend. Heute ist China die zweitstärkste globale Wirtschaftsmacht. Je mehr es sich aber der Welt öffnet, desto größer das Bestreben der westlichen, etablierten Mächte, das Land auf der Weltbühne zu isolieren – mit ökonomischen, politischen und ideologischen Mitteln. Hans Modrow, 93 Jahre alt, beschreibt die zurückliegenden sieben Jahrzehnte als kenntnisreicher Zeitzeuge.

Rezension

Dr. Michael Geiger

dr.m.geiger@inco3.de

Hans Modrow: Brückenbauer: Als sich Deutsche und Chinesen nahekamen, eine persönliche Rückschau, Berlin 2021, 234 Seiten

Kurz: Ein tolles Buch.
Eigentlich sind es mehrere Bücher in einem. Es ist ein Geschichtsbuch, eine Dokumentation der Zeitgeschichte, ein Buch über Diplomatie und Internationale Beziehungen, ein Buch der Politikwissenschaften, eine Autobiographie, ein Buch über Medienwissenschaften, ein „China-Buch".
Dem Autor gelingt es mit großartiger Leichtigkeit, den jeweiligen Fokus zu wechseln und dabei doch den Faden nicht zu verlieren. Das macht den dargebotenen Stoff spannend, lesbar und äußerst anregend. Doch der Reihe nach.
Erstens. Modrow wendet sich mit diesem Buch einem Thema von äußerster Aktualität zu. Immer wieder stellt sich die Frage, wie halten es die Deutschen mit der Ausrichtung ihrer internationalen Politik, wie und wodurch realisieren sich dabei deutsche Interessen und was bedeutet das für linke Politik. Das alles erfolgt nicht dozierend, sondern analytisch anhand persönlicher Begegnungen und realisierter Politik. Durch diesen Stil des „Faktischen", entfalten die geäußerten Positionen und Überlegungen ihre Wirkung auf den Leser. Dadurch, dass Modrow über Erfahrungen an der maßgeblichen Mitgestaltung an zwei unterschiedlichen Systemen verfügt, haben auch seine Einschätzungen des Verhaltens dieses System der VR China gegenüber einem besonderen Reiz.
Das Buch beginnt mit den Überlegungen, dass die Ausgangsbedingungen beider Staaten ähnlich waren. Die Gemeinsamkeiten der DDR und der VR China gehen dabei weit über das gemeinsame Gründungsjahr 1949 hinaus. In diesem Zusammenhang berichtet Modrow mit gewissem Stolz, wie z.B. die DDR und in Sonderheit Dresden, auf Anfragen der Volksrepublik zur Unterstützung im Schienen-Fahrzeugbau reagierten. Mit der Ausbildung von chinesischen Experten auf diesem Gebiet, wurden sicherlich maßgebliche Keimzellen dafür geschaffen, dass die VR China heute darin führend auf dem Weltmarkt ist.
Wenn heute die deutsche Automobilindustrie zu über 50% ihrer Absätze in China generieren und auch damit Arbeitsplätze und deutschen Wohlstand ermöglicht, sollte die Geschichte freundschaftlicher Beziehungen zwischen der DDR und der VR China nicht vergessen werden. An vielen Stellen macht Modrow deutlich, wie die chinesische Seite auf Bevormundung, gar erpresserische Versuche, oder nur oberlehrerhafte Bevormundung reagierten. In diesem Zusammenhang zitierte er auch Xi Jinping, der einmal in typisch chinesischer Art ein Bild malte: „Ob die Schuhe passen oder nicht, wissen die eigenen Füße am besten". Die Vielzahl persönlicher Erlebnisse und Episoden, über die im Buch berichtet wird, geben den grundsätzlichen Aussagen des Buches ein zusätzliches Gewicht. So z.B. das Erlebnis über einen Empfang in der japanischen Botschaft und den Äußerungen Kauders zur „Chinesischen Seuche". Die sich anschließende Einschätzung im Buch, das für die herrschenden Konservativen jeden Denkens außerhalb des christlich-abendländischen Demokratieverständnisses ein Gräuel ist, wird nachvollziehbar. Dass die VR China erst 1972 durch die BRD diplomatisch anerkannt wurde, zeugt von der Ignoranz und Blindheit einer antikommunistischen Grundhaltung. In dieser Haltung folgte die BRD bedingungslos den USA, schreibt Modrow. Sehr aufschlussreich sind die Schilderungen des Besuchs im „Deutsch-Chinesischen Öko-Park". Der Park fußt auf einer 2010 geschlossenen Regierungserklärung und zeigt schon jetzt beachtliche Ergebnisse. Angesichts der wirtschaftlichen Erfolge stellt Modrow die Frage nach der Sinnhaftigkeit der Doppelstrategie der BRD. Die Wirtschaft zu fördern und in der Politik eher zu mauern oder gar zu sanktionieren, das macht langfristig eher keinen Sinn.
Zweitens. Mit dem geistigen Exkurs durch nahezu 50 Jahre Zeitgeschichte umgeht der Autor keine Klippe. Egal, ob es die Überlegung Ackermanns zum deutschen Sonderweg zum Sozialismus ist, Fragen der Einheit und der Spannungen in der kommunistischen Weltbewegung, die Errichtung der Mauer zwischen den deutschen Staaten, die Kurswechsel der im Fokus stehenden kommunistischen Parteien, die dominante Rolle der Sowjetunion in der Deutschlandfrage, Gorbatschows Rolle in Fragen der internationalen Beziehungen und vieles anderes waren, immer wird es benannt, erläutert, hinterfragt und kritisch bewertet. Natürlich gehören zu den kritischen Hinterfragungen chinesischer und deutscher Politik auch der Umgang mit den Kampagnen der Kulturrevolution. Modrow stellt sich der Frage, „was geschah dort in der Volksrepublik? Was verbarg sich hinter dieser „großen proletarischen Kulturrevolution", die Mitte 1966 begann? Detailreich wird der Leser selbst über tätliche Übergriffe auf Botschaftsangehörige der DDR informiert. Über die mögliche Motivation und Überlegungen Maos, die hinter diesem einmaligen Zwischenfall standen, erfährt der Leser leider nichts. Das ist insofern schade, weil gerade Modrow über die erforderliche Sensibilität und vielleicht auch über die notwendigen Gesprächskontakte verfügt, den deutschen Leser darüber aufklären zu können.
Interessant sind auch seine Ausführungen, wie es zu den Ereignissen auf dem Platz des Himmlischen Friedens kam. Es werden die eingeräumten Fehler seitens der KP Chinas benannt, die zu den Unruhen führten. Ebenso wird die Art und Weise der Reaktionen darauf erläutert. Das, was er neunzehn Jahre später im Spiegel gelesen hatte, deckt sich mit dem, was ihm das Politbüromitglied Wu Xueqian Ende 1989 berichtete.
Drittens. Als methodisch hilfreich stellt sich das wiederholte „Springen" Modrows bei seinen Betrachtungen von zeitgeschichtlichen Ereignissen in andere historische oder auch über geopolitische Rahmen hinaus. Die Verweise auf deutsche Kolonialpolitik, auf Generaloberst Moltke, die historischen Hintergründe des Korea-Krieges, die Ergebnisse des Potsdamer Abkommens, die historische Einordnung der komplizierten Grenzkonflikten Chinas, mit der UdSSR, Indiens, Japans, all das öffnet den Blick und gibt dem Leser Anregungen zum eigenen Denken. Man muss hierbei nicht jedem Urteil folgen, in jedem Fall jedoch die zusammengetragenen Tatsachen zur Kenntnis nehmen.
Viertens. Auch Modrow wagt sich an das komplizierte Unterfangen, chinesische Mentalität besser verstehen zu wollen. Ein Abschnitt des Buches lautet: "Wie ticken Chinesen anders als wir in Europa?" Es ist sicherlich kein Zufall, das Modrow aus der Vielfalt aphoristischer Empfehlungen von Konfuzius gerade die herausgreift, die sich auf die Einhaltung von Regeln beziehen. "Richtiges Verhalten zu anderen Menschen- es befreit von Sorgen. Weisheit -- sie bewahrt vor Zweifeln. Entschlossenheit- sie überwindet die Furcht." Hier sieht Modrow den Schlüssel für das Selbstverständnis der Chinesen. Erst durch die Ordnung und deren Einhaltung, so Konfuzius, ist Freiheit möglich. Ungeregelte, chaotische Zustände hingegen erzeugen ein Klima der Unfreiheit, des Zwangs und der Bedrängnis." In der tausendjährigen nahezu ungebrochenen Tradition sieht Modrow eine der Gründe für die andere Verfasstheit der asiatischen Mentalität. Die Gemeinschaft und das Gemeinschaftsleben spielen eine überragende Rolle. Als ebenso bedeutsam wird die Bereitschaft zu pragmatischen Lösungen benannt, die sich nicht mit den europäischen Bedürfnissen deckt, die Welt in Kategorien Systeme und feste Muster pressen zu wollen. Die Übertragung des Marxismus in die geistige Welt der chinesischen Gesellschaft, so Modrow, musste zu Problemen führen. Hier wechselseitig voneinander zu lernen, daran lässt der Autor keinen Zweifel, ist bis heute ein Gebot der Stunde.
Fünftens. Auch um die Frage, was den nun das sozialistische Element an der chinesischen Entwicklung sei, macht Modrow keinen Bogen. Überzeugend lässt er den Leser Zeugnis nehmen an den tastenden Versuchen der Erkundungen einer sozialistischen Entwicklung unter den konkreten Bedingungen Chinas. Es werden bekannte Fakten zur Rolle Dengs, der materiellen Interessiertheit in der Landwirtschaft, der Schaffung der ersten Freihandelszonen, der Bildung von Joint Ventures, der Rolle der Staatsbetriebe, der Kontrolle der Kräfte eines freien Marktes, bis hin zur „Hinwendung zu einer qualitativ und ökologisch verträglichen Wirtschaftsweise" zusammengetragen. Interessant in diesem Zusammenhang ist der leider nur kurze Verweis auf die Analogie zum Begriff der „Störfreimachung", wie er auch in den sechziger Jahren von der DDR gebraucht wurde.
Freimütig bekennt sich Hans Modrow mit seinen eigenen Worten, zum „Vertreter der traditionellen Denkschule", indem er seine Skepsis bekennt zur weiteren Öffnung und Integration Chinas in die kapitalistische Weltwirtschaft. Hoffnungen der Einen, Sorge der Anderen sind dabei Begleiter der weiteren Entwicklungen. Er stellt sich die Frage, die viele der linken Kräfte bewegt, inwieweit sich „der Geist des ungehemmten Kapitalismus, der aus der Flasche gelassen wurde" wohl wieder zurückbringen lassen wird. Eine der zentrale Fragen ist dabei, wie sich das Verhältnis zwischen der sozialistischen Staatsmacht und der ökonomisch erstarkenden Klasse der privaten Unternehmer weiter gestalten wird.
Modrow schließt sich den Einschätzungen derer an, die die Bedrohung einer weiteren Entwicklung in Richtung Sozialismus, aus den Reihen der nationalen privaten chinesischen Unternehmer als ebenso groß ansehen, wie die aus den Reihen des internationalen Großkapitals.
Sehr aufschlussreich sind auch Modrows Äußerungen dazu , inwieweit die starke Betonung der Unabhängigkeit und Selbständigkeit der chinesischen Politik als eine Art Absage an den proletarischen Internationalismus zu verstehen sei. Das ist ohne Zweifel eine Frage von höchster Relevanz. Hier wären weitere Ausführungen sehr hilfreich gewesen. Auch derart, ob solche Fragen in den bilateralen Gesprächen jemals eine Rolle gespielt haben.
Sechstens. Einen großen Teil, über das ganze Buch hinweg, nehmen Äußerungen Modrows ein über das Selbstverständnis deutscher Kommunisten, deutscher Sozialdemokraten und vieler anderer humanistisch gesinnter Kräfte zum Umgang mit den chinesischen Entwicklungen. In diesem Zusammenhang wird Yi Junqing zitiert, der an den „demokratischen Westen" gewandt, der Meinung ist, dass diese heute die gleichen Fehler begehen, wie früher die Sowjetunion. „Er verneint die Möglichkeit anderer Entwicklungswege und -modelle und geht davon aus, dass es in der Ära der Globalisierung nur einen Weg gebe für alle Länder der Welt." Ein ganzer Abschnitt des Buches ist überschrieben mit dem Titel: "Arrogante und dumme Reaktionen bei den Linken". Nachdem er heftig den stereotypen und oberflächlichen Umgang auch linker Medien mit Beschreibungen von Ereignissen in der VR China kritisiert, kommt er im letzten Abschnitt des Buches zu dem Urteil, dass der Untergang des Realsozialismus und der Zerfall der Sowjetunion nicht nur für Irritation gesorgt hat, sondern auch für einen Niedergang des marxistischen Denkens. Von einer Weiterentwicklung marxistischen Denkens, so Modrow, kann nicht die Rede sein. Mit der Pandemie drängt sich die alte Frage wieder in den Vordergrund: "Welches gesellschaftliche System ist das humanere? Wo ist der Mensch der Maßstab aller Anstrengungen? Um dann Fidel Castro antworten zu lassen, ob nicht doch der Sozialismus die „artgerechtere Gesellschaft" sei. Zwei Seiten später wird Xi mit den Worten zitiert: "Eine gute Umwelt ist die Grundlage für die Existenz und die Gesundheit der Menschheit," wobei unter Umwelt weit mehr verstanden wird als nur die unmittelbare Umgebung und die Natur.
In den "letzten Worten eines zornigen Alten" lässt Modrow keinen Zweifel daran aufkommen, dass er eine solche Gesellschaft für möglich hält. In einer Referenz zu Günter Gaus, der meinte, die Evolution habe „die Menschen" nicht sonderlich verändert, sie seien der „alte Adam und die „alte Eva" geblieben, betont auch er, seine Unzufriedenheit mit dem Tempo des gesellschaftlichen Lernprozesses. Auf der letzten Seite seines Buches kulminiert sein Anliegen in der trefflichen Einschätzung: „Die Haltung zu China ist, um es mal ganz abstrakt zu formulieren, eine Klassenfrage," oder eben die Gretchenfrage. Zornig eben bemerkt er: "Europa ist nicht der Nabel der Welt. Und die Linken darin nicht einmal ein Krümel darin."

Abschließend muss dem Autor bestätigt werden, dass er sein Anliegen, wie er es in den Vorbemerkungen betont „Nicht aus Distanz, sondern mit Sympathie und Verständnis zu berichten" eingelöst hat. Dabei verklärt diese Haltung nicht, führt auch nicht zu eventueller Schönfärberei oder Lobhudelei. Im Gegenteil. Es sensibilisiert den Leser für das Verständnis für Fehler, ohne die eine Zukunft nicht möglich sein wird.
An eine Zukunft zu glauben, bestärkt das Lesen des Buches. Was gibt es Besseres?
Dafür gebührt dem Autor und dem Verlag großer Dank.